Verwaltung im Lernprozess: Räume für diskriminierungskritische Praxis schaffen
Am 25. Juni 2025 kamen auf der Veranstaltung „Diskriminierungskritische Verwaltung Jetzt! Haltung zeigen – Praxis stärken – Veränderung gestalten” Menschen aus Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft zusammen. Im Mittelpunkt standen Fragen nach Verantwortung, Lernprozessen und den Herausforderungen organisationaler Transformation.
Die Atmosphäre beim Ankommen war bereits von Wertschätzung geprägt. In musikalischer Begleitung von Toshín entstand ein offener Raum für Kennenlernen, Austausch und Reflexion – sowohl fachlich als auch emotional. Viele Teilnehmende äußerten im Nachgang, wie sehr sie den musikalischen Auftakt, als Einladung, sich auf den Tag mit all seinen Themen einzulassen, als Brücke zwischen Kopf und Gefühl, schätzten.
Den inhaltlichen Rahmen setzte die Senatorin für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung, Canzel Kızıltepe:
Wenn der Gegenwind stärker wird, muss die Verwaltung Haltung zeigen und den Zusammenhalt verteidigen. […] Verwalten bedeutet gestalten. […] Demokratie bedeutet Haltung zeigen, besonders wenn Hass lauter wird.
Die Diskussionen des Tages bewegten sich zwischen verschiedenen Spannungsfeldern: der Rolle von “Neutralität” in der Verwaltung, organisationalen Veränderungsprozessen und der Frage nach gerechten Zugängen für alle Bürger*innen im Land Berlin. Dabei wurde deutlich: Veränderung darf nicht auf dem Papier stehen bleiben. Sie muss im direkten Kontakt mit Bürger*innen erfahrbar werden.
Diesen Ansatz verfolgt auch die Fachstelle Diversitätsorientierte Organisations- und Kompetenzentwicklung im Land Berlin (Fachstelle DOKE). Ihre Erfahrung zeigt: Verwaltung lernt nicht nur durch Leitlinien, sondern durch kontinuierliche Prozesse, Konflikte und systematische Zusammenarbeit. Lernen bedeutet hier, neue Perspektiven zu integrieren, Machtverhältnisse zu reflektieren und vor allem dranzubleiben!
Lernen, Teilen, Weiterdenken: Verwaltung als gestaltende Kraft
Den inhaltlichen Einstieg des Tages bildete die Präsentation der Weiterentwicklung des Diversity-Landesprogramms Berlin durch Wladlena Olesch und Friederike Talbot (Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung, LADS). Deutlich wurde: Das Diversity-Landesprogramm 2.0 zu diversitygerechten Verwaltungsleistungen zielt darauf, Verwaltungen darin zu unterstützen, ihre Leistungen für Bürger*innen diskriminierungskritisch zu überprüfen und bestehende Barrieren abzubauen.
Anschließend teilten Teilnehmende der DOKE Kompetenz-Werkstatt für Diversity-Multiplikator*innen ihre Praxiserfahrungen. Die DOKE Kompetenz-Werkstatt ist ein innovatives, praxisnahes Weiterbildungsangebot für Mitarbeitende aus öffentlichen Einrichtungen mit dem Ziel , Verwaltungstleistungen diversitätsorientiert und diskriminierungskritisch zu gestalten.
Das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf betonte den Wert des geschützten Lernraums und des verwaltungsübergreifenden Austauschs: „Wir haben verschiedene Methoden der Organisationsentwicklung kennengelernt – z. B. Citizen Journeys –, die ich jetzt in der Praxis anwende.“ Das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg) hob die strukturelle Bedeutung von Multiplikator*innen innerhalb der Verwaltung hervor: „Es gibt kein Anforderungsprofil für Diversity-Multiplikator*innen. Aber wir brauchen diese Rolle. Sie muss verankert werden.“ Die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt ergänzte: „Diversity-Multiplikator*innen sind für das Thema [Diversitätsorientierung] da. Wir brauchen Räume wie diese Weiterbildung, um gemeinsam zu lernen und dranzubleiben.“
In den „Whispering Insights“ erhielten die Teilnehmenden konkrete Einblicke in Diversity- und Antidiskriminierungsvorhaben von Mitarbeitenden der Berliner sowie Hamburger Verwaltung. Dabei ging es nicht um abgeschlossene Best-Practice-Beispiele, sondern um reale Prozesse, Aushandlungen und auch Unsicherheiten:
- Das Bezirksamt Lichtenberg berichtete über die aktuelle Arbeit an einer Diversity-Gesamtstrategie. Besonders hervorgehoben wurden die Merkmale des Prozesses: die Beteiligung von Mitarbeitenden aus unterschiedlichen Fachbereichen und Verwaltungsebenen, die Entwicklung einer gemeinsamen Vision als strategische Grundlage sowie der Anspruch, die Strategie praxiswirksam zu implementieren.
- Aus der Hamburger Verwaltung kam der Beitrag “Von der Antidiskriminierungs-Strategie zur Umsetzung – Einblicke zur Übergangsphase”. Die Strategieentwicklung folgte einem intensiven verwaltungsinternen Abstimmungsprozess. Nun geht es darum, diese Strategie mit ihren sechs Handlungsfeldern umzusetzen. Dafür wurde ein verwaltungsinternes Projekt “Diversynergy” beauftragt. Ein zentrales Ergebnis war, dass Antidiskriminierung als Thema etabliert und besprechbar gemacht worden ist und gezielt allies gewonnen werden konnten – mit erheblicher Außenwirkung. Gleichzeitig wurde das Spannungsfeld geöffnet, wie sehr in Strategieentwicklungsprozessen die konkrete Umsetzung mitgedacht werden kann.
- Die Berliner Senatsverwaltung für Finanzen stellte ihren Entwicklungsprozess für ein Tool zum AGG-Beschwerdeverfahren vor, das den Ablauf des Verfahrens verständlich darstellen soll. Der Prozess erwies sich als sehr komplex und vielschichtig und erforderte eine detaillierte fachliche Auseinandersetzung. Das Tool soll nach Abschluss des Prozesses auch anderen Behörden zur Verfügung stehen.
Die Beispiele zeigen eindrucksvoll, wie wertvoll die Zusammenarbeit mit externen Partner*innen wie BQN und der Fachstelle DOKE in der Prozessbegleitung ist. Sie verdeutlichen die Vielfalt der Wege zu mehr Diversität und Teilhabe in der Verwaltung sowie die strategische Bedeutung des alltäglichen Verwaltungshandelns für die Umsetzung solcher Vorhaben. Damit dies gelingt, braucht es jedoch klare Mandate und ausreichende Ressourcen.
Verwaltung zwischen Neutralität und demokratischer Verantwortung
Das Panel „Wie politisch darf Verwaltung sein?“ bildete den Abschluss des inhaltlichen Programms. Der Entscheidung, ein Panel mit politischen und fachlichen Stimmen zu diesem Thema durchzuführen, ging eine intensive Diskussion im Organisationsteam der Veranstaltung voraus. In Zeiten rechtspopulistischer Diskursverschiebung, AfD-Wahlerfolgen und Angriffen auf demokratische Institutionen entstanden Unsicherheiten: Ist dies der richtige Moment für eine Diskussion über die politische Rolle der Verwaltung? Dürfen wir das? Müssen wir das sogar? Das Organisationsteam entschied: Ja, gerade weil diese gesellschaftlichen Entwicklungen die Diskussion so dringlich machen.
Das Panel war eine bewusste Positionierung gegen Gleichgültigkeit und Passivität und für eine klare demokratische Haltung. Auf dem Podium diskutierten Elif Eralp (MdA, Die Linke), Orkan Özdemir (MdA, SPD), Sebastian Walter (MdA, Bündnis 90/Die Grüne) gemeinsam mit Dr. Tim Wihl (Universität Erfurt), Eren Ünsal (Leitung der LADS) und Marta Gębala (Geschäftsführung von BQN – Zentrum für Diversitätskompetenz). Die Moderation übernahm Serdar Yazar (Geschäftsführung von BQN – Zentrum für Diversitätskompetenz). Die Diskussion bewegte sich um Verantwortung, Grenzziehungen, Angriffspunkte und die Frage, warum Verwaltung nicht unpolitisch sein kann und sie sich besonders ihrer politischen Verantwortung und Handlungsspielräume bewusst werden muss, wenn sie diskriminierungskritisch arbeiten will.
Dr. Tim Wihl stellte die rechtlichen Grundlagen klar: „Das Grundgesetz kennt keine politische Neutralität der Verwaltung. Es fordert parteipolitische und religiöse Neutralität. Vertreter*innen der Stadt sollen sich in ihrer Funktion nicht mit einer Partei oder Religion bzw. Weltanschauung identifizieren. Niemand darf aufgrund seiner Weltanschauung oder Parteizugehörigkeit diskriminiert werden. Der Staat muss keine Neutralität wahren, sondern das Grundgesetz vertreten.” Marta Gębala ergänzte aus organisationsentwicklerischer Sicht: „Unsere Organisationsentwicklungsprozesse sind nicht neutral [im Sinne von unparteiisch] – sie sind machtkritisch und positioniert.“
Eren Ünsal, Leiterin der LADS, betonte die menschenrechtliche Verpflichtung: „Wir sind verpflichtet, Menschenrechte zu verteidigen. Neutralität kann nicht bedeuten, Diskriminierung unwidersprochen zu lassen.“ Und Orkan Özdemir formulierte es praxisbezogen: „Neutralität wird oft missverstanden als Unsichtbarmachen von Gruppen. Aber Vielfalt sichtbar zu machen, ist unsere Aufgabe.“
Die Diskussion war lebendig und ehrlich. Und sie machte sichtbar, was während der gesamten Veranstaltung den ganzen Tag spürbar war: Es braucht Räume, in denen Widerspruch möglich ist. In denen politische und fachliche Perspektiven aufeinandertreffen und Verwaltung als gestaltende Kraft verstanden wird – nicht als neutrale Vollzugsinstanz.
Was bleibt
Die Veranstaltung endete nicht nur mit fertigen Antworten, sondern auch mit offenen Fragen sowie mit einem musikalischen Ausklang von Toshín, der als Ausdruck kollektiver Ermutigung wirkte: Haltung zu zeigen heißt manchmal auch, genau dann zu sprechen, wenn es unbequem ist.
Wir nehmen mit: Verwaltung kann und muss politisch sein, wenn sie in einer demokratischen Gesellschaft Verantwortung übernehmen will. Lernen ist dabei kein einmaliger Akt, sondern ein kontinuierlicher Prozess organisationaler Entwicklung, den wir gemeinsam gestalten können.
Die diskriminierungskritische Verwaltungspraxis braucht sowohl strukturelle Veränderungen als auch individuelle Lernprozesse. Entscheidend ist die Bereitschaft, sich auf Transformationsprozesse einzulassen und dabei sowohl fachliche als auch demokratische Haltung zu zeigen.